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Lucas Lenci: Inattention Era

Lucas Lenci: Inattention Era

Der Alltag vieler ist durch eine permanente Reizüberflutung bestimmt. In seiner schwarzweißen Serie präsentiert der brasilianische Fotograf strahlend weiße, aber leere LED-Displayflächen auf öffentlichen Plätzen, die für ihn als Metaphern für den überwältigenden Überfluss an Informationen dienen, der von den Menschen gar nicht mehr verarbeitet werden kann. Lenci beschreibt den Zustand einer Zeit, die von fehlender Konzentration gekennzeichnet ist.

Wir leben in Zeiten ständiger Bildinformation und „wir schaffen es nicht, uns voll und ganz auf den Reichtum unserer Umgebung einzulassen, sei es in öffentlichen oder privaten Räumen“, konstatiert Lenci. „Wir werden ständig von elektronischen Geräten belagert, die um unsere Aufmerksamkeit buhlen, und leben in einer Zeit, die von allgegenwärtiger Ablenkung und Unaufmerksamkeit geprägt ist.“ Sinnbildlich verdeutlicht wird dieser Zustand durch riesige LED-Displays, die er in Paris, der Schweiz, vor allem aber in seiner Heimatstadt São Paulo fotografierte. Eine erste Aufnahme 2016 war der Ausgangspunkt der Serie, die er in den letzten zwei Jahren konsequent umsetzte.

„Mein gesamtes Werk ist darauf ausgerichtet, den Betrachter zur Selbstreflexion anzuregen.“

Die Anzahl der Werbebildschirme wächst weltweit immer schneller an, niemand kann sich im öffentlichen Raum den visuellen Angriffen entziehen. Für seine Serie recherchierte Lenci die Standorte der beeindruckendsten Installationen, die modernsten und größten Bildschirme, die er vor allem in der brasilianischen Metropole fand. „Im Vorfeld habe ich mit Hilfe von Tools wie Google Earth potenzielle Aussichtspunkte ausfindig gemacht, aber sobald ich vor Ort war, habe ich immer frei experimentiert, um die überzeugendsten Kompositionen zu finden“, sagt der Fotograf. So positionierte er seine Hasselblad X1-Mittelformatkamera auf einem Stativ an einem möglichst günstigen Standpunkt, fotografierte in der Regel am Ende eines Tages mit beginnender Dunkelheit. Durch Langzeitbelichtungen von vier bis elf Minuten verwandelten sich die verschiedenen und wechselnden Werbebotschaften in strahlend leuchtende Leerflächen. Das Weiß der Anzeigetafeln steht nun für die Abwesenheit von Informationen. Die Entscheidung für Schwarzweiß verstärkt diesen Effekt, lässt ihn noch dramatischer erscheinen.

„Was meine Bilder zeigen, spielt sich in Echtzeit ab, direkt vor unseren Augen, überall, wohin wir schauen. Die Medien, die Informationsflut und die Hypervernetzung sind überwältigend und erreichen ein Ausmaß, das wir kaum noch bewältigen können.“

Seine Aufnahmen sind immer menschenleer – eine bewusste Entscheidung, denn „ein erkennbares Individuum in die Szene einzufügen, könnte den Fokus der Fotografie auf diese Person verlagern, was von der Essenz des eingefangenen Moments und der Hauptaussage des Werks ablenken würde“, erläutert Lenci. „Meine Hoffnung ist es, dass es eine Selbsterkenntnis darüber auslöst, wie wir uns in dieser Fülle von Informationen und Reizen zurechtfinden.“ Das Ergebnis seiner Arbeiten sind für ihn Szenen, die allein durch den fotografischen Prozess existieren. Daher versteht er sich nicht als Dokumentar, sondern „auf fotografischer Ebene strebe ich danach, dass sich meine Arbeit auf einem schmalen Grat zwischen Wahrheit und Illusion bewegt. Die Fotografie ist ein unglaubliches Werkzeug, um die eigene Version der Realität zu präsentieren – eine Form des Geschichtenerzählens, die die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion verwischen kann. Mein Ziel ist es, mit meiner Arbeit zum Nachdenken anzuregen, in jeder möglichen Form. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Praxis der Selbsterkenntnis ebenso wichtig ist wie körperliche Betätigung.“ Die Serie ist nicht abgeschlossen, der Fotograf plant, seine Arbeit in weiteren europäischen und brasilianischen Metropolen fortzusetzen.

Vorgeschlagen wurde Lencis Serie von Julio Bittencourt, der zur diesjährigen Gruppe der mehr als 80 internationalen LOBA-Nominatoren gehört.

Lucas Lenci

Lucas Lenci wurde 1980 in São Paulo, Brasilien, geboren. Nach seinem Abschluss in Fotografie und Industriedesign startete er seine Karriere mit kommerziellen, redaktionellen und kulturellen Projekten. Nach einer Zeit in New York als Art Director eröffnete er in São Paulo sein eigenes Studio und gründete 2010 die Online-Galerie Fotospot. Seine Arbeiten wurden international ausgestellt, und er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bisher hat er acht Fotobücher veröffentlicht. Er lebt mit seiner Familie in São Paulo.

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Porträt: © Lucas Lenci