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Ingmar Björn Nolting: An Anthology of Changing Climate

Ingmar Björn Nolting: An Anthology of Changing Climate

Von Kreuzfahrtschiffen und Freizeitparks, von Solaranlagen und Klimaprotesten: In entsättigten, klug komponierten Aufnahmen legt Ingmar Björn Nolting die Paradoxien des ambitionierten deutschen Klimaziels offen. Entstanden ist eine eindrucksvolle fotografische Forschungsreise durch eine gespaltene Gesellschaft.

Es ist ein durchaus ehrgeiziges Vorhaben: Deutschlands Klimaziel. Am 24. Juni 2021 hat der Bundestag dem von der Regierungskoalition vorgelegten verschärften Klimaschutzgesetz zugestimmt und verbindliche Emissionsziele für die Jahre bis 2045 beschlossen. Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass Deutschland bis 2045 Klimaneutralität erreicht. Konkret bedeutet dies, dass nur noch so viel Treibhausgase ausgestoßen werden, wie von der Natur wieder aufgenommen werden können. Entsprechend wurde der Kohleausstieg bis 2038, wurden 15 Millionen Elektroautos auf den Straßen der Republik bis 2030 und ein massiver Ausbau der erneuerbaren Energien gesetzlich verankert. Allein: Ein Gesetz schafft noch keine Tatsachen – und ob es die erhoffte und dringend notwendige Wirkung haben kann, wird die Zukunft zeigen.

„Fotografie ist für mich eine Art, über die Dinge nachzudenken.“

Im Alltag der Bundesrepublik zeigt sich derzeit ein Kampf der Narrative: Da steht das ambitionierte Klimaziel auf der einen, die Verteidigung der fossilen Energien auf der anderen Seite. Zum Symbol geworden ist dabei das westfälische Dorf Lützerath, das zugunsten des Kohleabbaus durch den Energiekonzern RWE im Januar 2023 geräumt wurde. „Als ich im Januar 2023 die Räumung von Lützerath fotografierte“, erinnert sich Nolting, „spürte ich zum ersten Mal diese Verwunderung, die meist Ausgangspunkt für meine Projekte ist. Eine Verwunderung über die Dinge, die Gesellschaft, die Welt, in der wir leben. Lützerath hat diese Verwunderung ausgelöst, mir verdeutlicht wie weit entfernt die deutschen Klimaziele sind, wie paradox das politische Reden und Handeln ist und wie schwierig es ist, gesellschaftlichen Konsens und demokratische Kompromisse für diese Themen zu finden. Dieses Gefühl trägt sich durch meine Arbeit.“ All diese Eindrücke werden in seinen Aufnahmen schmerzhaft sicht- und spürbar.

„Ich möchte Bilder machen, die die Betrachtenden faszinieren, an denen man hängen bleibt.“

Auf den ersten Blick erscheinen Noltings Fotografien oft undramatisch, wirken fast nüchtern. Erst auf den zweiten ziehen sie den Betrachter tief hinein in die komplexen Zusammenhänge, in die enge Verzahnung von Umwelt, Politik und gesellschaftlicher Dynamik. Dann erzählen sie Geschichten aus einer Nation, deren wirtschaftlicher Wohlstand auf der Verbrennung fossiler Energien beruht, zeigen den komplizierten Übergang zur Klimaneutralität und thematisieren das Ringen um die Frage, ob es möglich ist, in einer Konsumgesellschaft nachhaltige Antworten auf die Klimakrise zu finden. In seinem Langzeitprojekt fotografiert er Klimaktivistinnen und -aktivisten, Kreuzfahrtschiffe, beschneite Pisten und Solarparks, eine Meditierende im Wald genauso wie einen Medienunternehmer in seinem Privatjet. In „An Anthology of Changing Climate“ versammelt der Fotograf jeweils fein komponierte, dokumentarische Aufnahmen. Jede Aufnahme für sich öffnet eine ganz eigene Perspektive, gemeinsam ergeben sie das ruhelose Porträt einer Nation am sozialen und ökologischen Scheideweg.

Vorgeschlagen wurde Ingmar Björn Noltings Serie von Gilles Steinmann, der zur diesjährigen Gruppe der 80 internationalen LOBA-Nominatoren gehört.

Ingmar Björn Nolting

Jahrgang 1995, studierte Fotografie in Dortmund. Seine vielfach ausgezeichneten Aufnahmen wurden und unter anderem im „New York Times Magazine“, in der „Zeit“, „Le Monde“ und „Geo“ veröffentlicht und sind Teil der Kunstsammlung des Museums für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund. Nolting ist Mitglied der Agentur laif, Gründungsmitglied des DOCKS Collective für humanistische Fotografie und schreibt für die „New York Times“. Bereits 2021 war er mit seiner Serie „About the Days Ahead“ auf der LOBA-Shortlist, dort ein Jahr später mit dem DOCKS Collective noch einmal mit der Serie „The Flood in Western Germany“ vertreten. Nolting lebt in Leipzig.

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Porträt: © Cihan Cakmak