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Anush Babajanyan: Nagorno-Karabakh War and Exodus

Anush Babajanyan: Nagorno-Karabakh War and Exodus

Die Serie der armenischen Fotografin erzählt von einer von der Öffentlichkeit nahezu vergessenen Region, in der die seit Jahrzehnten andauernden Konflikte zur vollständigen Vertreibung einer Bevölkerungsgruppe geführt haben. Ihre Aufnahmen aus Bergkarabach dokumentieren emotional und empathisch das Leben der Bewohner in ihrem Zustand aus Bedrohung und ungewisser Zukunft.

Schwarz erstrecken sich die Berge als Silhouette hinter den Wohnhäusern, so hoch, als kämen sie dem Himmel ganz nah, als lieferten sie einen Ruheort für die rastlos umherschwirrenden Wolken. Aber ruhig ist es in Bergkarabach, dem „oberen schwarzen Garten“ in der Region im Südosten des Kleinen Kaukasus, schon lange nicht mehr. Seit dem Zerfall der Sowjetunion schwelte hier ein Konflikt um Gebietsansprüche und nationale Zugehörigkeit, wurde das frühere autonome Land von ethnischen Armeniern bewohnt und von Aserbaidschan beansprucht. „Ich habe 2016 in Bergkarabach angefangen zu fotografieren, als ein viertägiger Krieg zwischen Aserbaidschan und armenischen Truppen ausbrach“, erzählt Anush Babanjanyan. „Als Armenierin, die in Jerewan lebt, lag mir das Schicksal der Menschen in dieser Region immer sehr am Herzen. Der Krieg machte mir klar, dass ich dort tätig werden musste.“ Bis heute widmet sich die Fotografin der Republik, die im vergangenen Jahr zu ihrem Ende gezwungen wurde. Im September 2023 starteten aserbaidschanische Streitkräfte eine neue Offensive in Bergkarabach und trieben damit mehr als 100 000 Menschen in die Flucht – die meisten von ihnen kamen nach Armenien.

„Dies ist eine der wichtigsten Geschichten für mich als armenische Fotografin. Ich fühle mich dafür verantwortlich, die Realität zu dokumentieren, die die Armenier in Bergkarabach durchleben, da über dieses Thema immer noch viel zu wenig berichtet wird.“

Die Serie „Nagorno-Karabakh War and Exodus“ erzählt von den Schicksalsjahren zwischen 2016 und 2023, gibt die Ereignisse wieder, die sich in dieser Zeit und Region abgespielt haben, vom Viertagekrieg 2016 über die Nachwirkungen der verheerenden Auseinandersetzung im Herbst 2020 bis hin zur Ankunft der Bergkarabach-Flüchtlinge an der armenischen Grenze 2023. Dabei dokumentiert die Fotografin nicht nur Situationen des Krieges, sondern vor allem auch die subtilen, oft übersehenen Geschichten, die das Leben der Bewohner Karabachs prägen: „Ich wollte in dieser Serie nicht nur den lang andauernden Konflikt, sondern auch den Alltag der Menschen, die in ihm leben, zeigen“, sagt Babanjanyan. „Ich besuchte die Grenzen und fotografierte in der Hauptstadt Stepanakert und in entfernten Dörfern. Ich habe mich mit Familien angefreundet und ihren Lebensweg über die Jahre hinweg fotografisch begleitet.“

„Für mich als Dokumentarfotografin ist es wichtig, mit dieser besonderen Geschichte in die engere Auswahl für den LOBA zu kommen. Es ist nach wie vor eine Tatsache, dass die Geschichten der Menschen in Bergkarabach nicht genug erzählt werden, und der LOBA bietet eine Gelegenheit, diese Geschichten zu zeigen.“

Ihre Bilder sind Zeugnisse eines Daseins, das sich zwischen Hoffnung und Verzweiflung bewegt, zwischen Heimat und Fremde, Besitz und Verlust. Neben den Aufnahmen der düsteren Realität von fatalen Zerstörungen und militärischer Präsenz haucht sie den augenscheinlichen Zeichen des Untergangs mit Farbe und auch Fröhlichkeit immer wieder eine Prise Zukunft ein. So wird ein Baby geboren, versammelt sich eine Familie zum Gruppenfoto, Kinder spielen. Dinge, die einer Normalität gleichen würden, wären da nicht die ständige Sehnsucht nach Frieden und das Pulverfass, das zu explodieren droht. Exodus: Wohl kaum ein Wort klingt schockierender und brutaler, trägt den ungewollten Auszug und den ungewissen Ausgang in sich. Und so wird die Fotografie einer Familie aus Bergkarabach gleichsam zu einer emotionalen Erinnerung an Zeit und Raum.

Vorgeschlagen wurde Anush Babajanyans Serie von Yasemin Elçi, die zur diesjährigen Gruppe der 80 internationalen LOBA-Nominatoren gehört.

Anush Babajanyan

Die armenische Fotografin (*1983) ist Mitglied von VII Photo und National Geographic Explorer. Sie lebt zwischen München und Jerewan und konzentriert sich in ihrer Arbeit auf soziale Erzählungen und persönliche Geschichten. Sie ist Preisträgerin des World Press Photo Long-Term Project Awards 2023, des Prix Photo Terre Solidaire 2023 und Gewinnerin des Canon Female Photojournalist Grant 2019. Ihre Fotos wurden unter anderem in der „New York Times“, der „Washington Post“ und in „National Geographic“ veröffentlicht.

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Porträt: © John Stanmeyer