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Johanna-Maria Fritz: A Grave in the Garden

Johanna-Maria Fritz: A Grave in the Garden

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 reist die deutsche Fotojournalistin in die gefährlichen Gebiete des Landes und hält dort die Ereignisse und Auswirkungen eines Konflikts fest, der ebenso sinnlos ist wie traurig macht. Ihre bedrückende Reportage gibt direkte Einblicke in den Alltag der Menschen, die jeden Tag um ihr Überleben kämpfen.

Die Furchen im Gesicht eines Menschen können eine ganze Geschichte erzählen. Über Jahre und Jahrzehnte gewachsen, prägen sie das Gesicht nicht nur als Ausdruck des Alters, sondern auch aller Erfahrungen, die man im Laufe eines Lebens gesammelt hat. Liebe und Leidenschaft, Freude und Trauer, Hoffnung und Schmerz. Im November 2022 ist Oleg Yevsgineyev 62 Jahre alt, seine Falten liegen tief, sein Bart ist ergraut, aber mit dem, was er im Moment durchmachen muss, hätte er nicht mehr gerechnet. Um ihn herum herrscht Krieg. Er sitzt in seinem Zuhause in Rubischne, Charkiw, Ukraine, mitten in Europa und sieht in seiner Jacke und mit seiner Mütze eigentlich aus wie auf der Flucht. Aber es scheint, als könne er sich nicht mehr bewegen, als wäre der Schock, in dem er sich befindet, viel zu groß. Seine Schultern hängen, starr richtet sich sein Blick ins Nirgendwo, das Unwissen darüber, was kommt, ist zu seinem ständigen Begleiter geworden. Krieg. Angst. Leere. Johanna-Maria Fritz hat Oleg Yevsgineyev fotografiert, er ist einer von vielen, denen sie seit dem 27. Februar 2022, dem Tag ihrer Einreise in und dem Beginn ihres Projekts über die Ukraine, begegnet ist. „Mit meinen Bildern möchte ich die Schrecken des Krieges und die Auswirkungen auf die Menschen zeigen“, sagt sie. „Durch meine Berichterstattung trage ich dazu bei, ihre Geschichten und Erfahrungen vor Ort zu teilen und das Bewusstsein für die Konflikte zu schärfen. Meine Herausforderung besteht darin, einfühlsam zu sein und gleichzeitig ihre Privatsphäre zu respektieren. Das Wohl und die Würde der Menschen, die ich fotografiere, haben oberste Priorität.“

„Durch meine Arbeit habe ich gelernt, dass die Realität des Krieges oft anders ist, als man es sich vorstellt. Ich habe auch gelernt, dass das Zuhören und Fragen von entscheidender Bedeutung ist, um die Wahrheit herauszufinden und die Geschichten der Menschen zu verstehen.“

Seit dem Beginn der vollständigen Invasion ist die junge Reporterin in der Ukraine unterwegs, sie war in Kyiv, Irpin, Cherson, Bachmut, Butscha. An Orten, die durch heftige Kämpfe und viele Tote die Schlagzeilen der Medien bestimmen und deren Namen für all die Grausamkeiten stehen, die in diesem Land stattfinden. Leichen, Folterkeller, Gräber – Fritz hat die Schrecken des Krieges hautnah miterlebt und Dinge gesehen, vor denen man am liebsten die Augen verschließen würde. „Das Land ist generell gefährlich“, erzählt sie. „In den letzten Monaten gab es vermehrt Drohnen- und Raketenangriffe. Es besteht nicht nur die Gefahr aus der Luft, sondern auch am Boden in den ehemals besetzten Gebieten. Überall sind Minen versteckt, und ein falscher Schritt kann tödlich sein. Es ist wichtig, auf die Geräusche zu achten und zu wissen, wie sich eine Drohne oder ein Mörser anhören.“

„Die Serie hat sich im Laufe eines Jahres entwickelt, und ich plane, weiterhin an ihr zu arbeiten, bis Frieden in der Ukraine herrscht.“

Artillerieschüsse, Feuer, zerbombte Häuser, leblose Körper – ihre Aufnahmen kommen direkt aus dem Geschehen, dokumentieren unmittelbar die Ereignisse und werfen einen Blick auf jene, die noch am Leben sind. Ein junger ukrainischer Vater hält in seinem Wohnzimmer seine einjährige Tochter fest im Arm – ein Bild, das grenzenlos bedrückt und zugleich alles über einen Krieg erzählt, in dem am Ende die Unschuldigen die Opfer sind. Mit ihrer Serie gibt Johanna-Maria Fritz ihnen eine Gestalt.

Vorgeschlagen wurde Fritzs Serie von Gilles Steinmann und Markus Hartmann, die zur diesjährigen Gruppe der 60 internationalen LOBA-Nominatoren gehörten. 

Johanna-Maria Fritz

1994 geboren, studierte Fotografie an der Ostkreuzschule für Fotografie und ist seit 2019 Mitglied der Agentur Ostkreuz. Ihre Arbeit konzentriert sich auf benachteiligte oder vergessene Gruppen, Frauen und Konfliktgebiete. Sie veröffentlicht ihre Werke u. a. im Spiegel, in der Zeit und in Le Monde. Sie wurde mit dem Inge-Morath-Preis, dem Friedenspreis für Fotografie und dem PH-Stipendium für Fotografie ausgezeichnet.

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Porträt: © Jim Huylebroek