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Giovanni Cocco – Displacement: New Town No Town

Giovanni Cocco – Displacement: New Town No Town

Giovanni Cocco verdichtet dokumentarische Themen zu berührenden Metaphern. Mit seiner Serie „Displacement: New Town No Town“ widmet er sich der 2009 durch ein Erdbeben zerstörten Stadt L’Aquila in den Abruzzen. Die Trümmer wurden rasch beseitigt und provisorische Unterkünfte gebaut, doch die alte Heimat der Einwohner existiert nur noch als Erinnerung. Cocco dokumentiert nicht die Zerstörung, sondern beleuchtet die Frage, was eine Stadt zu einem lebenswerten Ort macht.

Ein Flamingo unter einer Plastikfolie: eine hübsche exotische Vogelfigur, eingemottet in Erwartung der Rückkehr in das gewohnte Revier. Dieses Motiv ist bezeichnend für Giovanni Coccos Langzeitprojekt „Displacement: New Town No Town“ (2012–2019). Als sich am 6. April 2009 die tektonischen Platten unter L’Aquila verschoben, veränderte sich das bisherige Leben der knapp 70.000 Einwohner schlagartig. Buchstäblich kein Stein blieb auf dem anderen, 308 Menschen starben. Die Überlebenden standen vor den Trümmern ihrer Existenz. Nicht nur in materieller, sondern auch in mentaler Hinsicht. Vor allem dieser Aspekt hat den Fotografen interessiert: „Ich wollte nicht die Katastrophe des Erdbebens darstellen, sondern die psychologischen Folgen der dadurch entstandenen Realität.“ Es ging ihm um die Beantwortung der Frage, was einen urbanen Lebensraum in soziokultureller Hinsicht ausmacht: „Was bleibt von einer Stadt übrig, die ihre Einwohner verloren hat? Wo endet die physische Stadt, und wo beginnt das Leben in einer Stadt? Was ist mit dem Genius Loci?“ fragte sich Cocco.

„Ich verstehe, dass ich die richtige Geschichte gefunden habe, wenn meine Vorstellungskraft beginnt, mir Bilder zu zeigen. Dann muss ich sie nur noch erstellen.“

Seit 2012 beobachtete er über die Jahre, wie sich der Vatikan beeilte, die Kirchen wiederaufzubauen. Er sah, wie viele Häuser, sogar ganze Straßenzüge rekonstruiert wurden. Obwohl formal funktionstüchtig, blieben die Gebäude doch inhaltsleere Kulissen. Es gibt keine Geschäftsstraße, kein Theater, kein Kino. Für viele Menschen wurden im Eiltempo Baracken hochgezogen – Behausungen, aber kein Zuhause. Doch wie so oft wurden die Provisorien zur Dauerlösung. Je mehr Zeit vergeht, desto absurder wirken die Gegensätze zwischen dem früheren Leben, etwa in Form von Efeu überwucherter Autos und verheißungsvoller Rekonstruktion von Vergangenheit – in Gestalt wiedererrichteter historischer Bauten. „Mich hat die Absicht getrieben, zu dokumentieren, wie eine Stadt die Auflösung ihrer Identität stillschweigend miterleben kann, während sie um ihr Überleben kämpft“, erläutert der Fotograf.

Coccos Bilder erzählen vom Verlorensein, sind ein Mosaik für den Begriff von Heimatlosigkeit und für das Ausgeliefertsein an die Politik, die oft über zu viele Köpfe hinweg bestimmt. Cocco zitiert aus David Harveys Buch „Rebel Cities: From the Right to the City to the Urban Revolution“ (2013): „Mit der Schaffung der Stadt hat sich der Mensch selbst neu erschaffen“, und fährt fort: „Zu beobachten, was in L’Aquila passiert, schreit danach, zu sehen, was heutzutage mit dem ,Recht auf Stadt‘ geschieht.“  L’Aquila wurde in dieser Hinsicht zu einer Metapher für Cocco, dort findet sich kondensiert und im Zeitraffer, was sich auch in anderen Städten beobachten lässt: Geht die Rechnung im Sinne turbokapitalistischer Maximen, Neues anstelle von Altem als Manifest einer erfolgreichen Zukunft zu setzen, immer auf? Ein bisschen Hoffnung schimmert immer wieder durch – wenn nur die Plastikfolie nicht im Wege wäre.

Giovanni Cocco

Geboren 1973 in Sulmona, Italien. Als Autodidakt fotografiert er seit seiner Kindheit. Beruflich konnte er sowohl bei nationalen also auch internationalen Magazinen Fuß fassen: Seine Arbeiten wurden in „L’Espresso“, „Internazionale“, „Mare“, „National Geographic Italy“, „Vanity Fair“, „Le Monde“ und der „Financial Times“ veröffentlicht. Nach und nach ging er von dokumentarischen zu künstlerischen Ansätzen über und arbeitet heute eher an eigenen, auch privat finanzierten Projekten. Seine Arbeiten wurden bereits in Italien, Frankreich, Guatemala und Japan ausgestellt.

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Porträt: © Giovanni Cocco