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Tong Niu: Express Delivery

Tong Niu: Express Delivery

Sein Projekt begann mit der Idee, die Arbeit von Müttern zu dokumentieren: Vor vier Jahren ist der Fotograf in die chinesische Logistik- und Kurierbranche eingetaucht und spiegelt an deren Beispiel die Geschichte von Urbanisierung und Industrie wider. Seine Bilder erzählen direkt und dennoch mit viel Feingefühl vom Leben der Boten, die vom Dorf in die Stadt ziehen und sich dort einen Blick auf eine aufregende Welt erträumen.

2020 war das Jahr der großen Veränderungen. Ein Virus eroberte die Welt, legte sie lahm und zog einen Wandel unvorhergesehenen Ausmaßes nach sich. „Das war das Jahr, in dem die Epidemie begann, meine Mutter ihren Job verlor und J&T Express den chinesischen Markt betrat“, erinnert sich Tong Niu. Gerade war er in ein Masterprogramm aufgenommen worden und fing an, Fotografie zu studieren.

„Dieses Fotoprojekt wurde zu einem Ventil für meine Emotionen, es brachte mich in den Bereich der Realität und veranlasste mich, über meine Beziehung zu meiner Mutter, zum Beruf des Kuriers, zur Stadt und die Frage des Überlebens nachzudenken.“

Seiner Mutter ist der Start dieser Serie zu verdanken. Sie kam nach ihrem Jobverlust als eine der ersten Arbeiterinnen vom Land in die Stadt, aus der Region Jiangsu im Osten der Volksrepublik Chinas nach Nanjing, um bei dem neugegründeten Kurierdienstleister ihren Dienst anzutreten. Eines Abends holte Tong Niu sie von der Arbeit ab und machte dieses Bild: Es zeigt die Zustellerfabrik nach dem Regen, auf dem dunklen Parkplatz im Vordergrund steht ein Van, und in einer Pfütze spiegeln sich die leuchtenden, modernen Hochhäuser der Stadt. Sie erheben sich in der Ferne wie eine Anmaßung, wie eine Metapher zur Aufforderung für die Lieferung der nächsten Bestellung. Oder wie Bertolt Brecht es in seiner „Dreigroschenoper“ ausdrückte: „Denn die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im Licht. / Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Und so ist diese Boten-Branche wohl zu verstehen: als ein Sektor, in dem durch Internetklicks über das Schicksal anderer Menschen entschieden wird. „Einige der Leute, die ich fotografiere, haben hohe Außenstände, wurden entlassen oder aber sind zu alt, um eine geeignete Arbeit zu finden“, erzählt Niu, „andere müssen ihre Kinder in der Schule unterstützen oder sind die wichtigsten und einzigen Ernährer in ihren Familien“.

„Vertrauen zu gewinnen war die Grundlage für die Aufnahmen. Zunächst habe ich versucht, mich in die Situation der Menschen hineinzuversetzen und ihnen zu helfen, wo ich nur konnte.“

Seit seiner ersten Aufnahme im Jahr 2020 taucht der Fotograf bis heute in das Leben der in diesem Gewerbe Tätigen ein, hält sie während ihrer Arbeit, in den provisorischen Unterkünften unterm Dach oder aber in ihren Heimatstädten fest. Die meisten der von ihm fotografierten Kuriere stammen aus ländlichen Gebieten der Provinzen Jiangsu und Anhui. Er begleitet sie zeitlich durch Frühling, Sommer, Herbst und Winter, durch einen Zyklus vom Verlassen der Fabrik in der Nacht bis hin zur Rückkehr zur Arbeit am Tag. Seine Bilder sind einfache Beobachtungen, aber sie erzählen von einem ganzen gesellschaftlichen Œuvre, das aus Mobilität, Migration, Modernisierung und Träumen besteht. Vor allem aber berichten sie ohne Voyeurismus, sondern gleichsam sensibel, subtil und respektvoll von den mehr als drei Millionen Beschäftigten, die in dieser Branche tätig sind. Von Menschen, die die Familie verlassen, um gerade dadurch für sie da sein zu können. Wenn das Neujahrsfest naht, der wichtigste traditionelle chinesische Feiertag, kehren sie für einen kurzen Moment in ihre lang verlorene Heimatstadt zurück. Gemeinsam mit ihren Lieben begrüßen sie das neue Jahr, das zugleich einen Anfang und einen Abschied bedeuten wird.

Vorgeschlagen wurde Tong Nius Serie von Yining He, die zur diesjährigen Gruppe der 80 internationalen LOBA-Nominatoren gehört.

Tong Niu (牛童)

Tong Niu wurde 1998 in Nanjing, Provinz Jiangsu, China, geboren. 2023 beendete er sein Studium an der Xi’an Academy of Fine Arts mit einem Abschluss in Fotokunst. Als junger Lehrer beschäftigt er sich derzeit mit Bildgestaltung und Unterrichten und konzentriert sich hauptsächlich auf die Themen Urbanisierung und Bevölkerungsmigration. Zudem setzt er sich mit kuratorischer Arbeit auseinander.

Porträt: © Tong Niu