010203040506070809010
Neil McGahee – Charlie und Wilhelm, 1983

Neil McGahee – Charlie und Wilhelm, 1983

Der amerikanische Fotograf erzählt in seiner Gewinnerserie eine Geschichte über zwei ältere Landwirte, die darum kämpfen, ihren Alltag im Zentrum des Bundesstaats Minnesota aufrechtzuerhalten. Neil McGahee erhielt für seine berührende Bildstrecke den Leica Oskar Barnack Award, der 1983 zum vierten Mal vergeben wurde.

„Unsere kleine Farm“ – vielleicht war das einst ein amerikanischer Traum: die Freiheit auf dem Land, mit der Familie, mit Selbstversorgung und Produktion. In bewegten Bildern flimmerten diese Vorstellungen über den Fernsehapparat, die unendliche Weite der Natur gekoppelt mit Einfachheit, Liebe und Bodenständigkeit. Als Neil McGahee Anfang der 1980er-Jahre für die „Star Tribune“ in Minneapolis, Minnesota, arbeitete, schickte ihn sein Redakteur am Ende eines Winters durch Orte, die noch tief im Schnee lagen, um dort Fotos von Bauern zu machen. Auf einer dieser Reisen begegnete er zwei Männern, die gerade mühsam mit einem Pferdegespann ein Feld pflügten. „Als ich mit ihnen sprach, wurde mir klar, dass diese Begegnung eine gute Lebensgeschichte ergab“, erzählt McGahee. „Zwei in die Jahre gekommene Männer, die sich trotz moderner Maschinen weigerten, ihre alten Gewohnheiten aufzugeben. Nachdem ich ihre Erlaubnis erhalten hatte, begann ich, sie zu fotografieren.“

„Ich bin an diese Geschichte herangegangen, wie ich es immer getan habe – ich habe mit den Porträtierten gesprochen und sie wissen lassen, dass ich keine Fotos inszeniere, dass ich, was auch immer passiert, ob gut oder schlecht, es fotografiere.“

Charlie und Wilhelm. Zwei Brüder, die in dem Haus geboren waren, in dem sie lebten. Beide hatten nie geheiratet. Beide sprachen Deutsch miteinander, solange der Fotograf nicht in der Nähe war. Einmal, so erzählten sie ihm, hätten sie sich einen Traktor gekauft, den sie aber nicht benutzten, weil „man mit einem Traktor nicht so gut reden kann wie mit einem Pferd“. Auf der Suche nach einem neuen Leben waren ihre Vorfahren einst in die USA gekommen, jetzt gehörten sie zu einem schnell verschwindenden Teil Amerikas. Fast drei Monate lang hat McGahee die beiden Brüder mindestens einmal pro Woche besucht, sie begleitet, ihr Leben mit der Kamera dokumentiert. Er sagt: „Ich bin an diese Geschichte herangegangen, wie ich es immer getan habe – ich habe mit den Porträtierten gesprochen und sie wissen lassen, dass ich keine Fotos inszeniere, dass ich, was auch immer passiert, ob gut oder schlecht, fotografiere. Sie gingen ihrem täglichen Leben nach und schienen mich kaum zu bemerken. Ich glaube, die Serie war etwas Besonderes, weil Charlie und Wilhelm mir so unbegrenzten Zugang zu ihrem Leben gewährten.“

McGahees Schwarzweiß-Fotografien zeigen die Brüder bei ihrer Arbeit, mit ihren Pferden, beim gemeinsamen Lunch, in Nahaufnahmen und Porträts. Ihre faltigen, furchigen Gesichter und ihre gebückten Körper, erzählen von ihrem langen Leben und von der Härte ihres Alltags. Aufstehen in der Frühe. Kraft und Ausdauer. Anstrengung und Armut. Das Dasein als Landwirt ist alles andere als ein Spaziergang übers Feld. Auch wenn für den Fotografen Schwarzweiß das Medium ist, das er seit jeher bevorzugt, unterstreicht es das Wesen des Lebens von Charlie und Wilhelm, ihren anstrengenden Alltag.

„Dass ich diesen Preis gewonnen habe, erfüllte mir einen Traum, den ich schon immer hatte: ein erstklassiger Fotojournalist zu sein“

Für seine nahe, berührende und zugleich kontraststarke Serie erhielt McGahee 1983 den LOBA. Auch wenn sich durch diese Anerkennung zunächst nur wenig veränderte, sich die Aufmerksamkeit für seine Arbeit nicht erhöhte. Erst im Laufe der Jahre begannen Journalisten, Artikel über ihn zu schreiben und Institutionen, seine Werke auszustellen.

Während McGahee seine Serie aufnahm, erlitt der ältere Bruder Charlie einen Schlaganfall und verstarb. Zum ersten Mal in seinem Leben war Wilhelm nun allein, er versuchte, den Hof weiterzuführen, überlebte seinen Bruder jedoch nur um ein Jahr. Und so berichten die Bilder des Fotografen auch von Tod, Trauer und Verlust. Davon, wie schwer es ist, einfach ohne einen geliebten Menschen weiterzuleben. Seine Serie, sagt McGahee, habe ihn in seiner Ansicht bestärkt, dass wir alle durch unsere Erfahrungen miteinander verflochten sind. Und dass die Geschichte eines jeden Menschen es wert ist, erzählt zu werden.

(Text verfasst 2020)

„Ich glaube, die Serie war etwas Besonderes, weil Charlie und Wilhelm mir so unbegrenzten Zugang zu ihrem Leben gewährten.“

Neil McGahee

Neil McGahee begann seine Karriere als Fotojournalist 1974 in Florida und wechselte 1981 zur „Star Tribune“ in Minneapolis, Minnesota. Er berichtete unter anderem über Kriege, Hungersnot und Flüchtlinge in Eritrea, Ruanda, Somalia, im Südsudan und im Tschad. In seinen Foto-Essays behandelte er Themen wie Aids, Altern und Armut. Neben dem LOBA erhielt er den Robert F. Kennedy Journalism Award und den Nikon World Understanding Award. Auf einer Farm in Georgia genießt er den Ruhestand, ist aber immer noch auf der Suche nach Menschen, die er mit seinen Leica Kameras fotografieren kann.